Projektlogbuch: Fluchtwurzeln - European Family Heritage


Vom 1. April 2023 bis 30. Juni 2023 darf ich dank Förderung durch den Fonds Darstellende Künste in die Recherche für ein neues Projekt eintauchen: Fluchtwurzeln - European Family Heritage:

Menschen auf dem Weg. Europas Geschichte ist voller kleiner und großer Bewegungen, freiwilliger und erzwungener. Hugenotten-Verfolgung, Wolhynien-Deutsche, Zipser, Republikflucht: Meine Familiengeschichte ist ein Sammelbecken historischer Prozesse, die ich erforschen will. Mittels Erzählkunst entstehen aus persönlichen und kollektiven Fluchtgeschichte(n) Verbindungen zum Heute und zwischen uns.

 

Gefördert vom Fonds Darstellende Künste aus Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien im Rahmen von NEUSTART KULTUR.


Supported by Fonds Darstellende Künste with funds from the Federal Government  Commissioner for Culture and the Media within the program NEUSTART KULTUR.

 


Projekt-Logbuch

Hier veröffentliche ich Auszüge aus meiner Arbeitsdokumentation mit Tagebuchcharakter. Es ist meine Materialsammlung von Puzzleteilen, Fundstücken, historischen Ereignissen, privaten Entdeckungen auf dem Weg durch die Geschichte. Die Sammlung ist Fundus für ein Erzählstück.

Um lebende und verstorbene Persönlichkeiten und deren Angehörige zu schützen, gibt es hier keine Vor- und Nachnamen oder konkrete Daten.


1. April 2023

Heute geht es offiziell los - Recherchezeit, Aufbruch in die Vergangenheit, Forschen, Ergründen, Entdecken, Entwickeln. Ursachen, Auslöser, Querverbindungen, vom Persönlichen ins Gesellschaftliche und zurück.  Zeitreisen, um Antworten zu finden, die Perspektiven für heute und morgen eröffnen. Geschichten zusammentragen, von Verlust und Hoffnung, Ohnmacht und Aufbruch, Einsamkeit und Zusammenhalt. Oder?

Erzählen, wie es war und gewesen sein könnte, werden könnte.

 

Gepäck für diese Reise? Ideen. Fragen. Lupe, Mikroskop, Fernglas. Empathie. Neugier. Offenheit. Dem Raum geben können, was kommt, was sich zeigt.


3. April 2023

s/w-Zeichnung mit Schriftzug Projekttitel
Titelbild für Material- und Gedankensammlung

 

Anfänge gemacht:

 

- Titelbild gezeichnet
- Datenblätter für Großeltern angelegt / gezeichnet
- Internetsuche nach Ahnenforschungsdatenbanken

- Leitfragen formuliert

4. April 2023

Mindmap Großeltern-Herkunft und Wege
Gedankensammlung für Themen und Vorgehen

Fahrplan/ Mindmap erstellt

Bibliothek, Ausleihe von Reiseführer Masuren mit Gdansk und Reiseführer Rumänien sowie "Die Geschichte der Zweiten Weltkrieges" von Basil H. Lidell Hart

Internet-Recherche zu
- Praust/ Danzig
https://de.m.wikipedia.org/wiki/Pruszcz_Gda%C5%84ski

- https://de.m.wikipedia.org/wiki/Flucht_und_Vertreibung_Deutscher_aus_Mittel-_und_Osteuropa_1945%E2%80%931950

- Potsdamer Konferenz

6. April

Einen Anfang machen. Mein Startpunkt: Mein Großvater, Vater meiner Mutter. Geboren und aufgewachsen in Praust bei Danzig, Pruszcz Gdanski.
Was weiß ich über ihn, über seine Kindheit, sein Aufwachsen, seine Flucht?
Kaum etwas. Wenn er anfing von früher zu erzählen, lauschte ich in einer Ambivalenz von Faszination und Ungläubigkeit. Klang es doch wie eine Geschichte, aus einem Buch oder einem Film. Weit weg, nicht vorstellbar. Als großes Kind, Jugendliche, hörte ich Unerhörtes, Fremdes. Von Spatzen, die in Ermangelung von Essbarem gefangen wurden, rohe Eier aus Vogelnestern, die ausgesogen wurden. Brennholz oder Kohle, von den schwerfälligen, langsam fahrenden Güterzügen geklaubt im Dunkel der Nacht.
Meine Großmutter wurde unruhig, wenn sie mitbekam, dass Opa von früher erzählte: Ach lass doch das alte Zeug!
So wuchs in mir eine Einschätzung, dass das Alte nicht gut, nicht erzählenswert war. Etwas, das man lieber vergessen sollte.
Heute denke ich: Hätte ich bloß mehr gefragt. Mein Opa hatte selbst nichts Trauriges oder Beklommenes an sich, wenn er mir erzählte. Bei ihm klang es wie Abenteuer, und er lachte sein typisches verschmitztes Lachen dabei, blickte mich liebevoll an – vielleicht mit dem Gedanken, dass ich es zum Glück besser hatte als er. Wir alles es inzwischen besser hatten. Mit Dankbarkeit dafür.
Vielleicht war es aber auch seine Strategie, ein Abenteuer daraus zu machen, einen Roman. So konnte er Abstand halten, und Traumatisches unwirklich, weniger bedrohlich werden lassen?
So viel hatte er aus eigener Kraft, mit seiner Hände Arbeit, mit seiner Zuversicht erreicht. Zielstrebig, aufrichtig.
Wo kam dieser bewundernswerte Mann her? Wer waren seine Eltern? Ist er allein geflüchtet, oder mit seiner Familie? Wie sah sein Zuhause aus in Praust? Konnte er Polnisch sprechen? Was genau hat er alles zurückgelassen: Zuhause, Familie, Kindheit, Heimat? Menschen, die er liebte?
So vieles möchte ich fragen, aber da ist niemand mehr, der antworten könnte.


8. April

Webseite mit Datenbanken Ahnenforschung
Webseite mit Datenbanken

Ahnenforschung, Genealogie:

 

- Recherche in https://www.compgen.de/
- Gefolgt: Link zu https://wiki.genealogy.net/Danzig#Kirchenb.C3.BCcher.2C_Verfilmte_Quellen.2C_Batchnummern
- Gefunden: Heiratsregister Standesamt Praust, durchsucht von 1920 - 1928, zwei Einträge mit Nachnamen gefunden:

1921 - eine Ehe mit Scheidungsvermerk von 1924
1928 - eine Ehe von zwei jungen Leuten, Jahrgang 1908 und 1909, vermutlich meine Urgroßeltern; Heirat recht kurz vor der Geburt meines Opas im Februar 1929; und hatte er nicht eine ältere Schwester?

Außerdem gefunden: Adressbuch Danzig 1929, mehrere Einträge mit passendem Nach- und Vornamen zu Eheschließungen

 

Unglaublich, was die Digitalisierung inzwischen möglich macht, auch dank so vieler fleißiger ehrenamtlich Forschender!

 


9./10. April

Recherche zu Bartholomäusnacht und Hugenottenverfolgung,
Beiträge dazu in der DLF-Audiothek:
https://www.deutschlandfunk.de/bartholomaeusnacht-100.html,
https://share.deutschlandradio.de/dlf-audiothek-audio-teilen.html?audio_id=dira_DRW_59402f6e


11. April

Ahnentafel Vorlage
Klassische Ahnentafel


Kontakt zu einem erfahrenen Genealogen aus Hannover.
Ein äußerst freundliches und ergiebiges Telefonat über fünfzig Minuten, Hintergründe zu Angeboten der Ahnenforschung, Geschichtliches, Wissenswertes, empfehlenswerte Recherche-Angebote im Internet und offline.
Schwerpunkt des Gesprächs ist Danzig, da mein aktueller Fokus auf meinem Opa und seiner Herkunft, Abstammung, Situation liegt
Großartiger Austausch!

Neue Ansätze für weitere Nachforschungen zu Vorfahren erhalten, es geht also immer weiter und tiefer in die Geschichte.


12. April

Logbuch auffüllen:
zuende gehört: DLF Audiothek, 1 Stunde History DLF Nova, Bartholomäusnacht
gelesen: Reiseführer Masuren, Infos zu Polen
geprüft: Zugreise nach Danzig - mindestens 10 Stunden 11 Minuten!!!!!
Was ist das aber, im Gegensatz dazu, wenn man die Strecke zu Kriegszeiten, womöglich zu Fuß zurücklegen musste.
Bin hin- und hergerissen: Reise nach Danzig - ja, klar, toll, auf Spuren wandeln (die heute sicher nicht mehr sichtbar),
aber was will ich wirklich dort, was sind meine Ziele, was kann ich vor Ort erreichen?

Zusammenfassung zu Bartholomäusnacht - Infos
Bartholomäusnacht 23./24.8.1572: Kurz nach der symbolträchtigen Vermählung von Margarte von Valois, der Schwester des (minderjährigen) Königs Karl IV.
mit Heinrich von Navarra, dem führenden Kopf der Hugenotten, welche eine Art Versöhnung einleiten sollte, fand das blutige Massaker in Paris statt:
Nach der Ermordung des militärischen Führers der Hugenotten, des Admirals Coligny, in Paris, mordete ein entfesselter Mob bis zu 3.000 weitere Menschen.
Männer, Frauen, Kinder sterben, auf übelste Weise hingerichtet.
Bereits 10 Jahre zuvor, am 1.März 1562, metztelten bewaffnete Gefolgsleute des Herzogs Guise von Lothringen in einer Kirche und dem zugehörigen Ort Wassy
Hugenotten nieder.
Seitdem wurde Guise der Schlächter von Wassy genannt. "...der 1. März 1562 markiert den Beginn eines blutigen, Jahrzehnte währenden Bürgerkriegs."
"Der Herzog von Guise fiel 1563 einem Attentat zum Opfer. Sein Gegenspieler, Admiral Coligny, starb wenige Jahre später am 24. August 1572,
als in Paris binnen weniger Stunden Hunderte von hugenottischen Adeligen ermordet wurden. Im Gedächtnis geblieben ist diese blutige 'Bartholomäusnacht'
durch zahlreiche Romane, Opern und auch Filme. Vom „Massaker von Wassy“ aber spricht kaum noch jemand – obwohl dieses Ereignis in seiner
historischen Bedeutung kaum zu überschätzen ist: Am 1. März 1562 begann der erste von insgesamt acht Hugenottenkriegen, deren Ende 1598 das Edikt von Nantes markierte – mit weiterhin gravierenden Nachteilen für die Protestanten. Friede kehrte damit nicht ein."
(Quelle: DLF Audiothek, https://www.deutschlandfunk.de/der-schlaechter-von-wassy-100.html, aufgerufen am 12.04.2023)

Der Hannoversche Genealoge schickt per E-Mail verschiedene Dokumente als Foto, aus Archiven, und ermuntert mich mit einer Dokumentvorlage, einen Stammbaum anzufangen :-)
Muss unbedingt Dankes-Mail schreiben, eine tolle Unterstützung!!!


13. April


Screenshot der Webseite kulturrouten.org
Screenshot der Webseite kulturrouten.org

 

Weiteres zu Hugenotten:

 

Fluchtrouten der Hugenotten: Kulturroute Europarat Hugenotten- und Waldenser Pfad, siehe links
Deutsches Hugenotten Zentrum

30jähriger Krieg 1612-1648, Kardinal Richelieus politische Absichten, Ludwig XIV Hugenotten-Verfolgung
Zwangskatholisierung; ca. 200.000 Hugenotten flohen, auch nach Deutschland, hier vor allem nach Hessen, Brandenburg

Brandenburgs protestantisches Herrscherhaus lockte Hugenotten, um sein vom Krieg gebeuteltes und ohnehin dünn besiedeltes Land wieder aufzupäppeln.
Hugenotten waren interessant wegen ihres Images als handwerklich-wirtschaftlich erfolgreicher Menschen; daher wurden sie weltweit von der jeweiligen Obrigkeit gut aufgenommen (z.B. Südafrika, Nordamerika, Europa), mit Vergünstigungen bedacht (Kredite, Privilegien) und konnten so erfolgreich etwas aufbauen
=> Neid in Bevölkerung , Anfeindungen

 

Heute:

siehe demografische Entwicklung, die Parallele Fachkräfte - und Arbeitskräfte-Mangel: ebenfalls immer wiederkehrende Phänomene, z.B. die sog. Gastarbeiter ab den 1950er Jahren

 


13. April

Fundgrube Audiothek:


Beitrag Dlf Audiothek
Espelkamp in Nordrhein-Westfalen. Ein Besuch in der Flüchtlingsstadt schlechthin

Beitrag DLF Audiothek, Hintergrund
Vertreibungen nach 1945
Nach der Übertragung der Ostgebiete an Polen

Beiträge Dlf Fazit
Deutsche Vertriebene und Geflüchtete
Dänemark eröffnet Museum https://www.deutschlandfunkkultur.de/deutsche-fluechtlinge-daenemark-museum-oksbol-100.html; Seite des Museums, das sich mit der Geschichte deutscher Geflüchteter und Vertriebener am Ende des 2. Weltkriegs und danach  beschäftigt: https://flugtmuseum.dk/de/

 


"Dechiffrieren" der Ehe- und Geburtsurkunden der Danziger Vorfahren, alte Handschrift, siehe rechts: "Deutsche Schreibschrift" im Vergleich mit der lateinischen Druckschrift. Manches hängt dabei auch noch von der Handschrift des jeweiligen Standesbeamten ab.


14. April

Titelbild Heft "Erinnerungskultur" mit Text von Rolf Wernstedt
Das Bild ist verlinkt zur Seite der Landeshauptstadt Hannover mit weiteren Informationen

Zu Ende gelesen Rolf Wernstedt, deutsche Erinnerungskultur

Tief beeindruckt
Unterdrückung, Verfolgung, Quälerei
Deutsche => Juden und andere
Soldaten als Kriegsgefangene
Vertriebene in Internierungslagern in Deutschland, Polen u.a., teils als Zwangsarbeiter * innen

Weitergearbeitet an Stammbaum, Vorfahren von Opa Günter Johannes aus Danzig


21. April

DLF Audiothek, Beitrag über Tschechien (Link siehe unten): Junge Tschechen wollen vertriebene Deutschstämmige als Teil ihrer Geschichte verstehen

Bedrückend und frustrierend: Im Verlauf der Menschheitsgeschichte immer wieder Unterdrückung, Krieg und Mord, weil eine Seite meint, ihr Glauben, ihre Haltung, ihr Anspruch sei richtiger – oder aus kalter Berechnung und Machtstreben.

 

Prinzip Auge um Auge? Nazis quälen, morden Unterdrückte in den besetzten Gebieten, besonders in Polen und der damaligen Tschechoslowakei -> Vertriebene Deutsche/Deutschstämmige aus Ostgebieten erleiden Gewalt durch die die dortige Bevölkerung und Obrigkeit; in Tschechien z.B. der Zug der Vertriebenen aus Brünn zu dem Lager in Pohořelice (Pohrlitz) auf halbem Weg zwischen Brünn und der Grenze zu Österreich.

 

https://kulturstiftung.org/zeitstrahl/der-bruenner-todesmarsch - Seite der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen; drastische Schilderung des Marsches und der Vor- und Nachgeschichte: Der „Brünner Todesmarsch“ begann am 31. Mai 1945, Aufarbeitung und Stand heute; aufgerufen zuletzt am 28.04.2023

 

https://www.deutschlandfunkkultur.de/historisches-trauma-tschechien-und-seine-deutschen-was-ist-100.html

Initiative von Tschech*innen, eine Erinnerungskultur und Aufarbeitung in Gang zu setzen;

Beitrag zuletzt aufgerufen am 28.04.2023


23. April

Muscheln
Eine Muschel als Symbol eines neuen Anfangs im Museum Migrationsgeschichte

Radiobeitrag bei DLF Kultur, Sendung Plus Eins am 23.04.2023

(man merkt schon, wo meine Radio-Präferenz liegt...)

 

Zu Gast ist Elif Şenel von DOMiD,  Dokumentationszentrum und Museum über die Migrationsgeschichte in Deutschland e.V.  Der Verein befasst sich mit der Migrationsgeschichte in Deutschland ab 1945.

 

Die Eltern der Kölner Journalistin Elif Şenel kamen in den 1970er Jahren aus der Türkei nach Deutschland. Heute sammelt sie für ein zukünftiges Migrationsmuseum Gegenstände und Geschichten von Menschen, die sich hier ein neues Leben aufgebaut haben.

Elif Şenel erzählt ein Beispiel aus der Sammlung von DOMiD:

 

Ein Gegenstand, der im Museum gezeigt werden soll / sich in der Ausstellung befindet, ist eine kleine weiße Muschel. Diese Muschel stammt von einer Familie, die 2015 geflüchtet ist und in Italien auf die Fähre gewartet hat. Die Kinder der Familie sammelten während des Wartens Muscheln am Adriastrand. Diese Muscheln haben sie dann verschenkt, an Menschen, die ihnen begegnet sind und ihnen geholfen haben. Die letzte Muschel ist nun im Museum und erzählt diese Geschichte aus dem Jahr 2015 und dem Sommer der Migration.

 

 

https://www.deutschlandfunkkultur.de/zweite-generation-migration-koelsche-lieder-auf-tuerkischen-strassen-dlf-kultur-76380db6-100.html

aufgerufen am 24.04.2023


26. April

Tauche tief ein in Geschichte:

Suche französische Gemeinde, Hannover, Berlin, Danzig: Geschichte der Hugenotten.

Finde Geschichte der Stadt Danzig. Im Zuge der Reformation siedeln sich auch dort Hugenotten an.

Geschichte des Staates Preußen. Wie Brandenburg-Preußen sich reformierte und protestantisch wurde, und nach dem 30jährigen Krieg in das gebeutelte und ohnehin dünn besiedelte Land gern Menschen aufnahm.

 

Suche nach Ochocin, Kreis Luzk, heute Ukraine, Wolhynien: Geburtsort meiner Mutters Mutter. Stoße auf Geschichte der Besiedlung von Wolhynien: Menschen, die im 19. Jahrhundert ihr Glück machen wollten und dafür Gebiete des heutigen Deutschlands oder Polens verließen, um in Wolhynien (oder Volyn) Landwirtschaft zu betreiben

Viel Material gefunden, gelesen, angelesen, innerlich gereist in unerschlossene Gebiete, in jeglicher Hinsicht.

Schattenseiten aufgeworfen, Ablehnung und Vertreibung, Enteignung in Wolhynien in den 1910er Jahren. Eine Welle von Vertreibung unter anderen.

Es war und ist viel Bewegung in Europa.

 

./. Exkurs

Während ich Geschichte betrachte, drängt sich mir die Analogie zu einem Musikstück auf: Die große Sinfonie mit dem immer wiederkehrenden Leitmotiv in Variationen zum Thema – vor allem LEIDmotiv. Hört das denn nie auf? Wie dumm sind die Menschen, dass sie einander quälen, unterdrücken, morden, nur um Recht zu haben? Nur um zu bestimmen? Nur um die eigene Meinung und die eigenen Ansichten durchzusetzen, über alles zu stellen?


29. April

altes und neues Familienstammbuch
Familienstammbücher, links aus den früher 1950er und rechts aus den 1970er Jahren

Heute auf dem Dachboden bei meiner Mutter gewesen. Nach ihrem Tod vor einigen Monaten ist vieles geordnet. Der Dachboden noch nicht.

Kartons durchgeschaut mit meiner Schwester auf der Suche nach Spuren der Vergangenheit, der Großeltern.

 

Gefunden:
Ein rotes Familienstammbuch. Die im Danziger Web-Archiv Entdeckten sind tatsächlich meine Urgroßeltern! Johannes und Louise.

Fotos. Von denen uns niemand mehr erklärt, wer darauf zu sehen ist.
Außer Anlass und Person sind rückseitig notiert. Manchmal sogar mit dem Zusatz "Zur lieben Erinnerung an...."
Manchmal kann ich die Worte auch nicht entziffern, in der alten Handschrift.
Hieroglyphen, die Geduld verlangen, entschlüsselt werden wollen. Oder ihr Geheimnis bewahren.

Und Fotos von Grabsteinen. Wo die Steine sich wohl befinden? Oder sind sie schon eingeebnet, die zugehörigen Grabstätten?

Es gibt Hinweise für weitere Detektiv-Arbeit. Spannend, ich freue mich darauf, mich demnächst weiter und intensiver mit den Funden zu befassen!
Gleich erstmal Reise in die jüngere Vergangenheit,  hier an meinem Geburtsort: 30 Jahre Abitur- Treffen.


30. April

Zeichnung einer Handtasche und Fotografien
Die weiße Tasche. Fotoarchiv meiner Familie. Eine Handtasche meiner Tante wurde umfunktioniert, um die Erinnerungen zu bewahren.

Den Aufenthalt am Geburtsort verbunden mit dem Besuch beim Vater (meine Mutter und mein Vater haben sich vor über 40 Jahren getrennt), Urgroßvater, Tante, die praktischer Weise in einem Haus leben.

 

Es ist ein sonniger Tag und wir sitzen auf der Terrasse. Opa hat gerade sein Bringdienst- Mittagessen am Wickel, und mein Vater fängt an zu erzählen. Meine Tante, seine älteste Schwester (er hat zwei), kommt irgendwann dazu. Opa macht sein Schläfchen. Die Tante geht, kommt später wieder, zwischenzeitlich taucht ihr Mann, mein Onkel auf, blass und schmal im Gesicht, wegen der Chemo. Er wirft zwischendurch ein, seine Oma wäre auch Hugenottin gewesen. Dazu möchte ich ihn ein anderes Mal gerne befragen.

Im Gespräch mit meinem Vater erfahre ich viel, es geht auch viel durcheinander, aber eine Chronologie arbeitet sich heraus. Vom Besiedeln einer Gegend in Rumänien, vermutlich im 19. Jahrhundert, bis zu den Wirrungen im und um den Zweiten Weltkrieg herum.
Meine Oma Pauline, die auf dem Weg von Rumänien über Polen schließlich nach Brandenburg kommt und mit ihrer Mutter auf dem Gehöft meines Opas bleibt, als zugeteilte Hilfsarbeiterin.
Arbeit und Wohnen für Geflüchtete. Der Onkel verwaltete den Hof, mein Opa war zu der Zeit keine Zwanzig und noch in Kriegsgefangenschaft. Nach seiner Rückkehr war sein Gesundheitszustand schlecht, er musste gepflegt werden. Meine Großeltern heirateten noch in den 1940er Jahren und führten den Hof gemeinsam.

Die nächste Odyssee begann Ende der 1950er Jahre, als mein Opa wohl bei einer feuchtfröhlichen Zusammenkunft etwas sagte, das kritisch gegenüber den herrschenden Bedingungen war.  Aus Furcht vor Repressalien wurden in Eile die Koffer gepackt und die Flucht ergriffen. Aus Brandenburg über Berlin nach dem Westen. Mein Vater erzählt von den einzelnen Stationen, die er als Vorschulkind erlebt hat. Lager für Geflüchtete verschiedener Art, immer sehr beengt, sehr behelfsmäßig, mit Decken abgehängte Abteile für Familien, keine Privatsphäre, kein persönlicher Raum.


5. Mai

Titelbild des Buches Kriegsenkel
Buch "Kriegsenkel" von Sabine Bode. Auch als Hörbuch verfügbar, großartig gelesen von Gelesen von Claudia Michelsen und Devid Striesow.

 

Neuerlicher Besuch in der städtischen Bibliothek. Meine gespannt erwartete Vormerkung "Die Verwandelten" von Ulrike Draesner ist abholbereit. Die Verwandelten erzählt von Frauen in der Jetzt- und der NS-Zeit, greift das Thema "Lebensborn" auf und befasst sich damit, was Frauen im Krieg und davor und danach erlebten und wie sie überlebten. Informationen über Lebensborn, die Heime für nicht verheiratete Mütter und aus Ostgebieten verschleppte Kinder,  finden sich zum Beispiel hier:

https://www.spiegel.de/geschichte/ss-lebensborn-a-948211.html


Verweile in der Bibliothek, Recherche in Abteilung Geschichte, Ausleihe diverser Bücher (Wälzer...) zu deutscher Geschichte,  Vertreibung, Kriegsgefangenschaft, Hitler-Stalin-Pakt und mehr.

Seit einigen Tagen höre und lese ich "Kriegsenkel" von Sabine Bode. Den Doppelpack Hören und Lesen mag ich, weil die unterschiedlichen Qualitäten tiefere und facettenreichere Zugänge, eine andere Intensität bieten: Eigene Bilder, einsteigen, sich fallenlassen beim Hörbuch. Aktiv, aufnehmend, (aus-)wertend beim Selberlesen. Inklusive Mischformen.

 

Fiese Geschichten, die die im Buch vorgestellten Eltern durchmachen mussten. Kaum darüber gesprochen. Schweigen.  Sprachlosigkeit.
Besonders die Frauen und Kinder - Opfer von Vergewaltigungen übelster Sorte. In Flüchtlingslagern wurden Kinder auf Geschlechtskrankheiten untersucht....
Ein Marsch mit unglaublich viel zivilem Leid und Tod hinaus aus der Stadt Breslau (heute: Wrocław), angeordnet vom Gauleiter der Nationalsozialisten. Sein Auftrag: Die "Festung" Breslau unbedingt halten. Die viel zu spät erfolgte Evakuierung der Bewohner:innen, dazu der Geflüchteten, die bereits aus dem Osten gekommen waren. Alles, was nicht kämpfen konnte,  musste raus. Die Evakuierung mit Zügen ging nicht schnell genug und wurde gestrichen - im Ansturm der Massen am Bahnhof wurden viele Menschen, vor allem Kinder,  totgequetscht oder -getrampelt. Frauen, Kinder und Alte  mussten nun zu Fuß raus. Anfang 1945, bei minus 20 Grad. Erfrorene blieben am Wegesrand.  Viele Babys. Begräbnis  nicht möglich. Gefrorener Boden, gebotene Eile.

Berichte darüber zum Beispiel hier: https://www.welt.de/print-wams/article617628/Eine-schlesische-Tragoedie.html

Auch diejenigen, die in dieser Zeit in Deutschland lebten, machten Unvorstellbares durch: Feuermelder, einer der nach Bombenangriffen Brandherde sucht, die gelöscht werden müssen, und als Junge die Toten, die Zerfetzen sieht. Leben in Kellern, in Angst.

 

Fragen:
Welche Dunkelheit liegt über dem Schicksal der Frauen meiner Familie?
Das werde ich wohl nicht mehr erfahren.
Die Suche nach Männern, die Schutz bieten? Die Suche nach Sicherheit? Die Angst?
"Wem es zu gut geht, den bestraft das Leben." Das war der Leitspruch einer der im Buch "Kriegsenkel" vorgestellten Familien.
Auf Katastrophen geprägt? Mit einem normalen, glücklichen Leben nicht zurechtkommen, weil die Erfahrungswerte dafür fehlen?


7. Mai

Lese in der Zeitung einen Beitrag über die Schauspielerin Zar Amir Ibrahimi, die vor 15 Jahren aus dem Iran geflohen ist. Berichte über Verfolgung und Unterdrückung, die politisch- religiös motiviert ist. Quälen und Morden.

 

Recherchiere in zwei Büchern. Eines ist ein Nachschlagewerk zu Allgemeinbildung vom Kaiserreich zur Teilung der deutschen Nation, deutsche Geschichte 1890 bis 1949. Das andere ist "Die große Flucht. Das Schicksal der Vertriebenen" von Guido Knopp. Die Konfrontation mit den Grausamkeiten, dem verstiegenen Machtwahn und der Gewalt, welche Gegengewalt auslöste, ist kaum zu ertragen.

Es wird für mich immer mehr eine Schablone, ein Muster: Krieg und Diktatur. Die Strukturen sind immer gleich. Jemand hat die Idee, eine bestimmte Ideologie, ein bestimmtes Ansinnen durchzusetzen. Findet ähnlich Motivierte, baut Strukturen auf, welche eine eventuell vorhandene Demokratie unterwandern. Legitimiert seinen Ansinnen mit Pseudoargumenten und -beweisen.


Letztendlich alles nichts anderes als heiße Luft, die einem narzisstischen, egoistischen, machtbesessenen Menschen und seinen Gleichgesinnten dabei hilft, ein System des Schreckens über ein Land (und manchmal auch noch andere Länder) auszubreiten. Wie furchtbar es ist, dass sich das immer wieder wiederholt. Seit Anbeginn der Menschheitsgeschichte, seit Anbeginn der Aufzeichnungen, gibt es genau das. Wie dumm ist es doch, dass die Menschen immer wieder darauf hereinfallen! Wo bleibt der Blick aus der anderen Perspektive, der Metaperspektive, das Einen -Schritt- Zurücktreten?

 

Immer wieder frage ich mich: Wohin führt mich meine Materialsammlung? Was mache ich aus all dem, was ich an Informationen lese, aufnehme, aus dem, was ich lerne? Was kann ich daraus machen, um etwas zu ändern? Wie schlage ich die Brücke von meinen Großeltern ins Heute? Ist heute nicht vieles ähnlich? Wir sehen nicht die Verantwortung dafür, aus welchen Gründen Menschen auf die Flucht gehen. Wir kümmern uns nicht (genug) um die Ursachen - weil wir es nicht können? Wir kümmern uns nur um die Lenkung und Verwaltung der Fluchtströme. Das reicht nicht aus. Wenn wir alle zusammen durch Konsum, durch Lebensstil, durch Waffenlieferungen dazu beitragen, dass in anderen Teilen der Welt Krieg und Verfolgung herrschen, dann müssen wir etwas dagegen tun.


Heute scheint Flucht auch ein wirtschaftlicher Faktor zu sein: Menschen verdienen Geld daran: Die Schleuser, die Menschenhändler, sie alle zocken den Flüchtenden, den Menschen auf der Flucht das letzte Geld ab. Was ist mit den Menschen, die kein Geld haben, das ihnen auf der Flucht hilft? Gibt es eine Flucht- Mafia? Das zumindest wäre ein Unterschied zu den Zuständen, die während des Zweiten Weltkriegs und dann nach herrschten. Oder haben damals auch schon Menschen in diesem Ausmaß daran verdient, dass andere flüchten mussten?

 

Jetzt weiß ich, was mich so schreckt und belastet bei der Lektüre der ganzen Schicksale im Verlauf des und nach dem Zweiten Weltkrieg. Es ist das Wissen, dass all dies nicht einfach nur Vergangenheit ist. Es ist das Wissen, dass genau das irgendwo auf der Welt gerade stattfindet. Es ist kein in der Vergangenheit abgeschlossener Prozess. Ein Teil dieser Brutalitäten, Massaker, Quälereien, finden auch genau jetzt irgendwo auf der Welt statt. Vielleicht sogar gar nicht so weit von hier, wie in der Ukraine. Im Sudan und weiteren Regionen auf dem afrikanischen Kontinent. In Südamerika. In China. Im Iran. Diese Reihe lässt sich  fortsetzen.

Die Welt als einen schrecklicher Ort, nicht liebenswert, bedrückend. Dystopie überall. Wie kann ich, können wir, dem etwas Positives entgegensetzen?


Morgen, am 8. Mai, wird des Endes des Ersten Weltkriegs gedacht. 


11. Mai

Adresse des Fotografen, auch heute noch in Sao Paulo zu finden
Adresse des Fotografen, auch heute noch in Sao Paulo zu finden

 

 

 

Eines der alten Familienfotos zeigt eine junge Frau, auf der Rückseite ist eine Widmung geschrieben, die wie ein kleiner Brief wirkt. Die junge Frau schreibt an ihre Mutter und ihren Vater und schickt diese Fotografie. Wie sie schreibt, seien inzwischen elf Jahre vergangen, seit sie sich nicht mehr gesehen haben. Kein Name unter dem Brief.

 

Aber es gibt die Prägung des Fotografens im Foto. Schonfelder oder Schönfelder. Das Fotostudio hat eine Adresse die spanisch, portugiesisch, anmutet. Und richtig: Da steht Sao Paulo.  Mir fällt dazu ein, dass meine Oma mal erwähnt hatte, eine Tante (?) von ihr sei nach Südamerika gegangen. Argentinien oder Brasilien, glaube ich. Die hätte sie gern irgendwann einmal besucht.

 

Nun fange ich Feuer, recherchiere die Adresse, suche nach dem Fotografen. Es ist immer wieder unglaublich, was sich über das Internet ausfindig machen lässt. Die Adresse in Sao Paulo gibt es immer noch, es gibt sogar Fotografen in Sao Paulo mit demselben Nachnamen, und diverse alte Foto-Postkarten des alten Fotografen über verschiedene Internetportale käuflich zu erwerben. Bei der Identität der abgebildeten Frau hilft mir das aber leider nicht weiter.

 

 

Auch, wenn in meiner Familie das Thema Vertreibung und Flucht dominiert - und auch dies kein Recht beinhaltet, die Personen als reine Opfer zu betrachten - muss ich mich mit dem Umstand auseinandersetzen, dass es unter meinen Vorfahren auch Täter gegeben haben kann.

 

Noch ein Foto-Fund: Wer auf diesem Bild zu sehen ist, weiß ich wieder nicht. Aber es entstammt der Sammlung meiner Großeltern, also ist es von Bedeutung, wenn es so lange aufbewahrt worden ist. Auf dem Foto ist ein Paar zu sehen, sie hat einen Blumenstrauß im Arm, er trägt eine NS-Uniform. Auf dem Ärmel der Uniform steht etwas, ein Schriftzug. Mein Sohn hat es mit Hilfe der Lupe entziffert: AJ Streifendienst. Bei der Internet-Recherche stellt es sich leider als "HJ-Streifendienst" heraus. 

 

Laut Wikipedia war dies wohl eine Art Kontrollinstanz innerhalb der Hitlerjugend mit gewissen Überwachungsaufgaben, aus der sich im Verlauf eine Nachwuchsorganisation für die SS entwickelte. https://de.m.wikipedia.org/wiki/HJ-Streifendienst

 


12. Mai

Gruppenbild gut gekleideter junger Leute ca 1950er Jahre
So viel Lebendigkeit und Charakter, so viel Zukunft. Wer sind (waren) diese jungen Leute?

Innerlich gebunden, fasziniert, hypnotisiert. Das Thema Familienforschung bindet mich, ich denke die ganze Zeit über die Familie, über die Fährnisse und offenen Fragen nach, die Einflüsse von politischen Entscheidungen und Krieg. Und es erdet mich. Da sind Menschen, die vor mir da waren, und ihre Reihe leicht lange lange lange zurück. Es sind die Wurzeln, nach denen ich mich sehne. Sie binden mich an der Erde fest. Gerade das Beschäftigen mit den Fotos aus dem Karton, den ich auf meiner Mutters Dachboden gefunden habe, bringt noch mal eine andere Komponente, eine neue Dimension hinein.

Was für eine Freude, gestern ein Porträt gefunden zu haben, auf dem wie sich herausstellte, mein Urgroßvater mütterlicherseits drauf ist. Der Vater meines Großvaters. Herausfinden konnte ich das nur, weil ich mich an die Beschreibung erinnerte, die mein Vater mir vergangenen Sonntag gab: ein Mann mit weißen, etwas gewellten Haaren, und gebräuntem Teint. Wie ein Hanseat wirkt er, und ausdrucksstark mit einer guten Prise Melancholie. Zuletzt lebte er in Magdeburg - Magdeburg wurde Hansestadt genannt, darüber bin ich neulich gestolpert. Er stammte aus Praust bei Danzig.

Manche der alten Fotos rühren mich an. Besonders die Portraitfotos, auf denen der Ausdruck der Person, der Persönlichkeit so stark ist. Da habe ich dann doch länger als ich es wollte mit den Fotos zugebracht, sie ausgebreitet auf dem großen Tisch, angefangen zu sortieren, welche Fotos zusammengehören könnten, versucht, Widmungen und Inschriften zu identifizieren, handschriftlich in Sütterlin mit ungewohnter Rechtschreibung. Spiegel der Schulbildung der Zeit, und ihrer Umstände? Welche Schätze, welche Schicksale.

Ein großes Fass, das ich da aufgemacht habe. Und die vielen neuen Fragen, die daraus hervorquellen, zusammen mit Erkenntnissen. Und doch fühle ich mich angebunden, die Fotos geben den Namen und Standesamtsurkunden eine andere Qualität, sie machen sie real. Es sind wirklich Menschen, die hinter den Namen und Daten stehen. Ich bin verwirrt und auch glücklich.


15. Mai - Halbzeit

Bild von Gliederung Expose

Der Zeitraum der Rechercheförderung ist zur Hälfte herum. Zeit für eine Bestandsaufnahme:

- Was habe ich bisher erreicht, was will ich, muss ich noch recherchieren?

- Was mache ich mit dieser stetig wachsenden Materialsammlung, mit den Erkenntnissen, Gefühlen, Impulsen  und Ideen?

 

Ich verabrede einen Termin mit meinem Mentor vom Verband der Erzählerinnen und Erzähler e.V. (VEE). Blick und Fragen von außen helfen bei der Ausrichtung, dem Überprüfen und (Neu-) Justieren von Zielen.

 

Der Austausch verhilft mir zu mehr Klarheit über Inhalte und den weiteren Kurs meiner Arbeit - ein Ziel ist also schon mal erreicht :-)

Nach der bisher relativ breiten und offenen Recherche werde ich im weiteren Verlauf enger und konkreter sammeln. Gedanklich und schriftlich arbeite ich nun fortlaufend an einem Exposé für ein Erzählkunstprogramm. Mit diesem im Hinterkopf habe ich eine Art Kompass für das, was ich verarbeiten möchte.


17. Mai

Altes schwarz-weiß Foto einer Frau
Foto meiner Urgroßmutter mütterlicherseits auf dem sogenannten "Stammblatt" der Einwanderungsbehörde

 

Schatzsuche. Welch ein Glück, dass sich über ein Telefonat mit meinem Großonkel der Kontakt zu einem weitläufigen Verwandten herstellen ließ: Einem begeisterten und versierten Ahnenforscher, der sogar eine eigene Datenbank mit über 2.000 gelisteten Personen und einem Fundus an historischen und aktuellen Dokumenten erstellt hat.

Dank dieses Stiefcousins meiner verstorbenen Großmutter (so in etwa hat er es mir erklärt :-)) kenne ich nun einiges mehr an Umständen und Daten, die meine mütterliche Familienlinie betreffen.

 

Dieser Teil der Familie verließ in den 1940er Jahren das Gebiet Wolhynien (Volyn), welches in der heutigen Ukraine liegt. Sie siedelten dort seit Generationen, unter teils schwierigen Umständen ob der politischen Situation.

Im Rahmen des Hitler-Stalin-Paktes zogen große Teile dieser Siedler:innen nach Westen, und blieben zunächst in Lagern wie zum Beispiel im damaligen Warthegau, heutiges Polen.

Die damalige "Einwanderungsbehörde" fertigte für jede Person ein eigenes "Stammblatt" an, mit allen Daten zu Herkunft und Familiensituation.

 

Meine Urgroßmutter war damals mit ihrer achtjährigen Tochter (meiner Großmutter) und ihrem fünfjährigen Sohn aus Wolhynien in den Warthegau gekommen. Meine Großmutter als vorehelich geborenes und vom Mann meiner Urgroßmutter geduldetes Kind taucht in keinem der Dokumente der Einwanderungsbehörde auf. Als wäre sie nicht dabei gewesen. War dies das Los der nichtehelichen Kinder?


Gute Neuigkeiten: Ein Dokument, das mir der Hannoveraner Genealoge zur Verfügung gestellt hat,  weist darauf hin,  dass die Familie meines Großvaters sich tatsächlich auf französische Hugenotten zurückverfolgen lässt. 

Eine Freude! Zwischenzeitlich hatte ich von einer anderen Quelle eine negative Auskunft erhalten und mich gefragt, ob die mündliche Überlieferung in unserer Familie doch nicht stimmen konnte. Also Zweifel adé, Hoffnung ahoi :-)


20. Mai

Einblicke in mein Literatur-Bad (Bad, weil es für mich immer ein intensives Eintauchen, Abtauchen ist):

 

Nach dem Hörbuch "Kriegsenkel" von Sabine Bode habe ich "Die vergessene Generation" angefangen, die sich mit den Kriegskindern beschäftigt. Ebenfalls sehr empfehlenswert.

Das lang ersehnte Buch "Die Verwandelten" von Ulrike Draesner, das ich aus der Bibliothek entliehen und zu lesen angefangen habe, enttäuscht mich allerdings.

Meine Erwartungen waren hoch angesichts des Themas, Lebensborn und generell Umgang mit (Gewalt-)Erfahrungen von Frauen in NS-Zeit und Krieg und die (Nicht-)Überlieferung an die nächsten Generationen.

Da ich zuvor noch nichts von Draesner gelesen hatte, war mir ihr Stil nicht vertraut. Nun weiß ich, was ich bei Literatur schätze bzw. bei Draesner vermisse: Einen Schreibfluss, der als breiter Strom der Sätze fließt, der mich trägt, der mich hineinzieht, sanft hineinzieht, oder manchmal auch rasch oder rasend gierig, und ich bin mittendrin und lasse mich tragen von den Geschehnissen, oder mitreißen.

Bei Ulrike Draesner werde ich immer wieder herausgerissen aus dem Lesefluss, muss nachdenken, die Wortspiele, die Wortschöpfungen entschlüsseln und verstehen. Das ist Arbeit, nicht Vergnügen. Sprachverliebtheit, Selbstverliebtheit, Kunst? Immerhin wird Draesners Werk prämiert und gefeiert.

In Poesie, Gedichten oder Kurzgeschichten mag ich das auch. In Romanen nicht, stelle ich fest.

Das andere, den Schreibfluss, den breiten Strom der Sätze und Gedanken, den finde ich persönlich wirklich bewundernswert. Lucinda Riley, Barbara Wood, und viele andere, die großartig mit Sprache arbeiten, episch, beschreibend und doch nicht trivial. Belletristik, keine Kunst. Daher nicht prämiert? Höchstens von den Leser:innen durch den zahlreichen Kauf auf Bestsellerlisten katapultiert.

 

Eine spannende Entdeckung über das Schreiben für mich. Da mach ich was draus.

 

 Und ganz praktisch habe ich an Stammbäumen weitergearbeitet,  an einer Linie bis in die 1840er Jahre.


25. Mai

Jugendliche lesen auf Bank
Medienkultur - damals Buch, Comic, Zeitschrift, heute Smartphone

Heute beim Radiohören eine interessante Facette entdeckt. In der Sendung Kompressor auf Deutschlandfunk Kultur ging es um eine Kontroverse um das Game "Gezeichnet - Flucht 1945".

Kritisch betrachtet wurde die mögliche Umkehr des Täter-Opfer-Verhältnisses (deutsche Vertriebene = Opfer) durch die Konzeption und Gestaltung der Spielinhalte. Eine Umkehrung, die häufig in faschistischen Zusammenhängen stattfindet. Die Spielentwickler:innen haben das Game erst einmal vom Markt genommen und bessern nach.

 

Neu für mich an der Stelle (das mag auch an meinem Alter und meinen Vorlieben liegen):

Games und digitale Spielformate als Variante der Erinnerungskultur. Es gibt die Initiative "Erinnern mit Games" als Teil der Stiftung Digitale Spielekultur und einen Arbeitskreis Geschichtswissenschaft und digitale Spiele.

Mehr dazu:

https://www.stiftung-digitale-spielekultur.de/project/fachkonferenz-erinnern-mit-games/

https://www.stiftung-digitale-spielekultur.de/games-erinnerungskultur/


26. Mai

Puzzlestücke

Heute anhand einer Sterbeurkunde, auf der Witwe und Eheschließungsdatum und sogar die Eltern (!) notiert waren, einen Verwandten, einen Urgroßonkel, identifiziert. Daraufhin konnte ich endlich auch eines der alten Fotos zuordnen, denn da ist er mit Frau und Baby abgebildet, wie die Handschrift auf der Rückseite erklärt.

Diese Sterbeurkunde lässt mich auch ein Foto meiner Ururgroßeltern erkennen, da der Wohnort auf Sterbeurkunde als auch rückwärtig auf dem Foto zu finden ist.

 

Habe mich für ein Online-Seminar bei Kriegsenkel e.V. angemeldet.

https://www.kriegsenkel.de/event/online-einsteigerseminar-fuer-kriegsenkel/


28. Mai

Familienbesuch bei der väterlichen Seite am Pfingstsonntag. Für das Zusammentreffen packe ich einige Fotos aus dem Bestand meiner Großeltern mütterlicherseits ein, vielleicht erkennt ja jemand jemanden von früher.

Das bewahrheitet sich leider nicht, die offenen Fragen packe ich mit den Fotos wieder ein. Zumindest zu Kleidung und Uniform weiß mein Großvater, 95jähriger Zeitzeuge, Auskunft zugeben: Jungvolk. Wehrmacht, Invalidenkennzeichen.

 

Nach Kaffee und Kuchen starten wir mit der hiesigen Seite.

Die weiße Tasche. Heute wird das Familienarchiv geöffnet, die lose Fotosammlung, die in der Handtasche ein Zuhause gefunden hat. Der Handtasche, die einmal meiner Tante gehört hatte (wie sie persönlich noch einmal hervorhebt: von ihrem eigenen Geld gekauft, damals...).

 

Die weiße Tasche hatte ich mir anders vorgestellt (oder erinnert?), siehe Zeichnung von Anfang April. Einen Umhängeriemen gab es, doch die Halterung ging in die Brüche und der Riemen adieu.

 

Ein Handgriff in die Tasche. Damit befördert mein Vater ein Sortiment unterschiedlichster Fotos hervor. Unterschiedlich in Größen und Farben, mit Rändern oder auch nicht. Menschen, Gebäude, Landschaften.

Wir tauchen ein.


Flucht innerhalb Deutschlands

Ende der 1950er Jahre, in Brandenburg, in der damaligen DDR. Eine Familie packt überstützt die Koffer, hat doch ein Familienmitglied in feucht-fröhlicher Runde kritische Äußerungen dem Regime gegenüber gemacht. Zwei Erwachsene und drei Kinder verlassen den Hof, der lange von Generation zu Generation weitergegeben worden war. Über Berlin wird nach Westen "gereist". Das ging zu der Zeit noch.

Für die Frau, meine Großmutter, die zweite Flucht. Zuvor hatte sie schon ihre Heimat in Rumänien verlassen müssen.

Für den Mann, meinen Großvater, nach den persönlichen Verlusten, die er durch den Krieg erlitten hatte, das Abschneiden aller verbliebenen Wurzeln.

Für die Kinder im Alter zwischen 5 und 10 Jahren, meine Tanten und meinen Vater, der Verlust einer Welt.

In Westdeutschland sind es wechselnde Unterkünfte für Geflüchtete, die ab dann für die nächsten eineinhalb Jahre das Zuhause werden.

Eines davon war das Flüchtlingslager in Eichstetten.

Schwarz-weiß Foto der Gebäude des Lagers
Foto: Heimatverein/Repro: Gustav Rinklin

Beitrag vom Foto links zu finden unter: https://www.badische-zeitung.de/eichstetten/grosse-bereitschaft-zur-integration--95620091.html

 

Weitere Informationen:

Flüchtlingslager in Eichstetten am Kaiserstuhl, Die Geschichte des Helferzentrums
Im Juli 1939 wurde das 38 ar große Grundstück von der Reichsregierung erworben und mit drei Lagerhallen bebaut, die während des zweiten Weltkriegs der Wehrmacht als Heeresverpflegungslager dienten. Nach der Kapitulation 1945 übernahm die französische Besatzungsmacht für beschränkte Zeit die Hallen um dort Militärfahrzeuge und Gerätschaften zu warten.
Diese Lagerhallen wurden im Winter 1951/52 einem Zirkus als Winterquartier zur Verfügung gestellt.  (...)
Im Sommer 1953 wurde aufgrund der politischen Lage in Osteuropa ein Flüchtlingslager für die Unterbringung von Heimatvertriebenen eingerichtet. Anfangs fanden vermehrt DDR-Flüchtlinge Unterschlupf, ab 1955 kamen auch vertriebene Balkandeutsche in das Lager. Die Unterbringung war notdürftig, da viele Flüchtlinge und ganze Familien auf engstem Raum zusammen lebten.

Das Flüchtlingslager selbst verfügte über wenig Einrichtung wie z.B. Herdplatten, sodass am Anfang das Essen von außerhalb geliefert wurde und erst später mit großen Einschränkungen selbst gekocht werden konnte. Nur für das Notwendigste war gesorgt. Im Schnitt war das Lager mit 350 Flüchtlingen belegt, davon waren rund ein Drittel Kinder. Bis 1958 wurden insgesamt 5700 Flüchtlinge in Eichstetten untergebracht. Erst ein Jahr später konnte das Flüchtlingslager aufgelöst werden.

Quelle: https://www.eichstetten.de/unsere-gemeinde/wissenswertes/geschichte/eichstetter-helferzentrum-ehem-fluechtlingslager; zuletzt aufgerufen am 08.06.2023


4. Juni

Teilnahme am Online-Einsteigerseminar für Kriegsenkel, organisiert vom Kriegsenkel e.V.

 

Inhaltsbeschreibung von der Webseite:

Was sind eigentlich Kriegsenkel und was verbindet sie? Welche Glaubenssätze aus der Kriegszeit bestimmen unser Leben auch heute noch? Wie kann ich die Geschichte meiner Familie besser erforschen? Welche Archive sind dafür hilfreich? Und wo finde ich professionelle Hilfe bei psychischen Belastungen? Diese Fragen stehen im Zentrum dieses Einsteigerseminars, das der Kriegsenkel e.V. veranstaltet. Das Seminar ist für Menschen gedacht, die sich neu mit dem Thema Kriegsenkel befassen. Sie bekommen wichtige Hinweise für den Umgang mit den Fragen transgenerationaler Kriegsfolgen…

 

Quelle: https://www.kriegsenkel.de/event/online-einsteigerseminar-fuer-kriegsenkel/

 

Der Ausschreibungstext hat mich angesprochen und neugierig gemacht - ich hoffe auf eine Erweiterung und Vertiefung zu meinem Thema.

Einen ganzen sonnigen Sonntag, den ich online am Schreibtisch im Seminar verbringe, später ist mein Fazit:

Sehr bereichernd und erhellend, eine tolle Gruppe, ein intensiver Austausch, und verschiedene neue Impulse zum Weiterforschen.


7. Juni

Stöbere auf der Seite des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Es ist schon echt beeindruckend, welch aktives Engagement der Volksbund hat, Jugendbegegnungen, Arbeit an den Kriegsgräberstätten (es werden nach wie vor Gebeine von Menschen geborgen, die im 2.Weltkrieg verschwanden, verstarben, seitdem vermisst werden), und politische Bildung. Unglaublich viel Material, davon habe ich einiges heruntergeladen. Des Weiteren gibt es noch einen Podcast speziell mit dem Blick auf weibliche Geflüchtete, den zwei junge Frauen im vergangenen Jahr produziert haben. Ich bin sehr gespannt darauf ihn zu hören.

 

Nach dem Fund einer Traueranzeige nebst Danksagung, Fotos und Brief mit Adresse in der alten Fotokiste meiner verstorbenen Großeltern mütterlicherseits hatte ich Hoffnung, Verwandte ausfindig zu machen. Die vielleicht noch mehr von der Familie, von früher, von der Flucht und den Neuanfängen wissen könnten. Die Traueranzeige verwies auf einen Hamburger Friedhof. Heute habe ich dann auch endlich jemanden dort erreicht. Die Dame gab mir die Auskunft, dass zwar die von mir gesuchte Person dort als Datensatz hinterlegt sei, aber die entsprechende Grabstätte nicht mehr bestünde. Es war wohl eine anonyme Grabstätte ohne Grabstein. Auch die andere Person ist im System auffindbar, diejenige, die die Traueranzeige an meine Großeltern geschickt hatte. Aber aus Datenschutzgründen erhalte ich keine weitere Auskunft. Die Dame vom Friedhof beendet das Gespräch. Angesichts der negativen Auskünfte werde ich traurig. Eine Sackgasse. Diesen Zweig der Familie werde ich wahrscheinlich nicht wieder ausfindig machen können.


11. Juni

Heute im Hörbuch "Die vergessene Generation" wird Margarete Dörr zitiert, die das Deutschland bei Kriegsende mit einem Ameisenhaufen vergleicht.

Das Bild berührt mich, ich sehe unglaublich viele Menschen, die unterwegs sind. Zu Fuß. In überfüllten Zügen. Menschen, die alle irgendwie gleich aussehen: Erschöpft, mager, bleich und grau. egal in welchem Alter.

Menschen, die auf der Suche sind: nach Vermissten, nach Nahrung, nach einem neuen Zuhause, nach dem alten Zuhause und geliebten Menschen, nach Wegen aus diesem Land, in das sie verschleppt wurden oder in dem sie misshandelt wurden. Kinder aus der Kinderlandverschickung, Displaced Persons, Heimkehrer aus Krieg und Gefangenschaft,  Geflüchtete und Vertriebene, ...

 

Margarete Dörr: "Wer die Zeit nicht miterlebt hat..."
Frauenerfahrungen im Zweiten Weltkrieg und in den Jahren danach (3 Bände) Campus Vlg. Ffm., 1998 -- 1.559 Seiten

Bei Google Books: https://books.google.de/books?id=KRjHGy7b8hcC&printsec=frontcover&hl=de&source=gbs_ge_summary_r&cad=0#v=onepage&q&f=false

 


12. Juni

Startseite des Internetauftritts vom Bundesarchiv
Startseite des Internetauftritts vom Bundesarchiv

Die Arbeit mit den Ahnen, das Forschen, wie sie gelebt und was sie erlebt haben, ist äußerst intensiv. Die Menschen, die ich gekannt und geliebt habe in ihrem Kontext zu sehen. Die Schwere und die Traumata zu sehen. Die unbeantworteten Fragen, die meine Fantasie sprießen lassen und noch kein Licht ins Dunkel bringen. Drei intensive Monate, das ist ein Anfang. Drei Monate Rechercheförderung sind ein Anfang. Das stelle ich fest. Es ist eine lange Aufgabe, herauszufinden, und auszuhalten, was ich herausfinde. Die inneren Prozesse, die angestoßen werden, dürfen nicht unterschätzt werden.

 

Ich musste schon einige Male zurückdenken an das Kriegsenkel-Seminar. Der Kursleiter sagte, man müsse auch gut auf sich achten bei der Arbeit in der Ahnenforschung. Er hatte das Bild mit der Arschbombe. Das finde ich tatsächlich auch passend: Keine Arschbombe zu machen mitten hinein,  sondern sich vorsichtig vorzuarbeiten. So viel, wie geht.

Gerade auch im Hörbuch "Die vergessene Generation" öffnet die Autorin viele Türen. Wie die Generation tatsächlich vergessen und verkannt war, auch von der Psychoanalyse nicht als traumatisiert wahrgenommen wurde. Frühkindliche Erfahrungen, tiefe Ängste und Traumata, die das Kind nicht erinnern kann und doch fühlt, bei sich und bei den Eltern. Das eine sind die Menschen, die den Bombenkrieg in den Städten erlebt haben. Das andere sind die Menschen, deren Leben durch Flucht und Vertreibung geprägt worden ist. So wie bei meinen Großeltern.

Heute kommt Antwort auf meine Anfrage beim Bundesarchiv. Eine gute Woche hat es gedauert, erfreulich schnell, wie ich finde. Ich erhalte Dokumente, die Auskunft geben über die SS-Zugehörigkeit eines Urgroßonkels. Diesen Urgroßonkel habe ich erst durch meine Recherche für das Projekt entdeckt. Er war ein Bruder meines Urgroßvaters, des Großvaters meiner Mutter. Ich habe sogar ein Foto von ihm mit seiner Frau und einem Baby, eines der Kinder der beiden. Der Hinweis auf die SS- Zugehörigkeit hat mich natürlich geschockt und gefrustet. Ein Vorfahr, der in einem Konzentrationslager tätig war! Aber auch damit muss ich mich auseinandersetzen. Die Unterlagen sind aufschlussreich und werfen doch wieder neue Fragen auf. Mein Urgroßonkel war nur kurze Zeit in dem Konzentrationslager tätig und wurde, so wie es sich liest, auf eigenen Wunsch entlassen. Da einige der Unterlagen bei einer anderen Stelle des Bundesarchivs liegen und dort angefordert werden müssen, bleiben weitere Fragezeichen. Hat mein Urgroßonkel die SS verlassen, weil er nach der anfänglichen Begeisterung für das Thema und den Nationalsozialismus den Schrecken und das Grauen entdeckt hatte? Jung ist er aus dem Leben gegangen, bereits mit 40, durch Krankheit. Vier Kinder hatte mit seiner Frau gehabt, ein fünftes ist wohl gestorben. All das geht aus den Unterlagen hervor, und doch bleiben die neuen Antworten unbefriedigend, da sie wiederum neue Fragen aufwerfen. Ein Puzzleteil. Ich bin eine leidenschaftliche Puzzlerin.


16. Juni

 

 

In der Diplomarbeit der Carina Vogt las ich heute zu dem Begriff "Volksdeutsche" interessante Hintergründe. Neben der Orientierung eines Nationalismus nach staatsbürgerlichen oder ethnischen Kriterien (Lebensort/Pass vs. Sprache/Kultur) auch den Umstand, dass in Deutschland der "schwierigere und gefährlichere" ethnisch hergeleitete Begriff wirkte: Nur Deutsche (egal, wo sie lebten, mit deutscher Sprache, Kultur, Abstammung) seien Angehörige der deutschen Nation. Dies ist ein intensiv wirkender Ausschlussfaktor, man kann diese Zugehörigkeit nicht erwerben, sondern nur ererben. Mechanismen der Ausgrenzung funktionieren hier also besser als Mechanismen der Integration.

Diese Orientierung entwickelte sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts, also lange vor der NS-Zeit.

Der staatsbürgerliche Begriff folgt anderen Kriterien: Wer lange gemeinsam an einem Ort lebt, bildet (zumindest vor dem Staat) eine Gemeinschaft, wird Teil der Gemeinschaft.

 

 

Die Nationalsozialisten okkupierten und definierten nationale Zugehörigkeit und manipulierten mit raffinierter Propaganda.

 

Von der Lektüre dieser Arbeit erhoffe ich mir weitere Erkenntnisse.  Für mich sind besonders die Abschnitte interessant, in denen es um Wolhynien und die Umsiedlung der dortigen "Volksdeutschen" geht. Darunter war auch eine meiner Großmütter und ihre Familie.

 

Im Internet ist die Diplomarbeit hier zu finden: https://utheses.univie.ac.at/detail/12389#

 


19. Juni

Ein bisschen Torschlusspanik überfällt mich:

Bald endet die Projektförderung, und es gibt noch so viel zu entdecken, so vieles zu lesen, zu erforschen!

Die ganzen Fäden, die ich aufgenommen habe, führen mich immer weiter in die Vergangenheit, in die Gegenwart, in die Themen hinein. Manchmal verweben sie sich, manchmal laufen die Fäden auch scheinbar ins Nichts, ins Nirgendwo. Telefonnummern von Verwandten aus alten Adressbüchern, die nicht mehr vergeben sind. Einträge in Kirchenbüchern in Sprachen, die ich nicht beherrsche. Nachforschungen werden gestoppt, weil ich erst Einsicht in Archivalien beantragen muss.

Bei Fäden denke ich inzwischen oft an meine Urgroßmutter Aurelia, die ich noch kennenlernen konnte. Die Mutter meiner Großmutter väterlicherseits, die aus Rumänien stammte. Sie knüpfte Teppiche und las aus Karten.

Für mich hat sie damals auch einen Teppich gemacht. Die weichen Fäden durch steifes Gewebe gezogen, verschlungen. Reihe um Reihe. Ein Muster aus Bunt und Dunkel. Den Teppich gibt es nicht mehr. Lange lag er in meinem Kinder- und Jugendzimmer, bis er zu abgelaufen, abgenutzt war und nicht mehr "passte".


20. Juni

Es wird einen gemeinsamen Besuch an einem Ort der Vergangenheit geben. Ich plane eine Fahrt mit meinem Vater und meinem Großvater nach Osten, nach Brandenburg. Zu dem Ort, an dem mein Großvater und seine Vorfahren lebten. Bis er Ende der 1950er Jahre aus Furcht vor Ressentiments mit seiner Familie das Land verließ.

Eine gemeinsame lange Autofahrt in eine mir fremde Gegend und zu Orten, die jetzt wohl gänzlich anders sind, als in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ich bin gespannt.


Lektüre: Hitler-Stalin-Pakt 1939. Das Ende Ostmitteleuropas?

 

Schreibe die Essenzen aus dem Abschnitt über Rumänien heraus (tatsächlich 1,5 Stunden....)


Mein Bild von Russland bzw. der Sowjetunion leidet bei den Recherchen. Hatte ich vorher eine recht neutrale, offene Haltung, so ist sie jetzt verändert. Das Klischee der grausamen und brutalen Russen, menschliche Kälte. Wo kommt das her, aus den Beschreibungen der Kriegsführungen? Dieses Narrativ, kann es einer Nation (und nur einer) angeheftet werden? Übernimmt und glaubt sie es dann selbst und verifiziert es durch entsprechende Taten? Die Schilderungen der Taten sowjetischer Soldaten gegenüber der Zivilbevölkerung während des Zweiten Weltkriegs legen furchtbares Zeugnis ab. Und doch finden sich ähnliche Züge und Verhaltensweisen in den Reaktionen anderer Nationen, beispielsweise der Rumänen, im Umgang mit deutschen und auch jüdischen Mitbürger:innen während und nach der NS-Zeit. Nur als Vergeltung deutscher Verbrechen?

 

Zusammenfassung und Zitat aus dem Buch, Seite 106: Nach dem Ultimatum im Juni 1940, in dem Russland Bessarabien und die Bukowina von Rumänien fordert, teilt es der rumänischen Regierung mit, dass die geforderten Gebiete in vier Tagen geräumt sein müssten. Die Karte, die diesem Ultimatum beigefügt wurde, weist zusätzlich auch noch einen Streifen des Gebietes von Moldau aus. Der russische Zugriff auf Rumänien, auf die geforderten Gebiete, erfolgt mit Waffengewalt. Auf die abziehenden rumänischen Truppen wurde geschossen. Dies sorgte für Verbitterung und Hass der Rumänen auf die Russen und Bolschewiki. Der Autor des Textes spekuliert über die Motive der UdSSR, weil Fakten zu dem Zeitpunkt (1989 erschien das Buch) nicht bekannt waren. Aber, so schreibt er, "in jedem Falle bleibt ein Übermaß machtpolitischer Präsenz, ein nicht notwendiges Ausmaß der Demütigung Rumäniens, welches nur durch die totalitäre Struktur des Sowjetstaates zu erklären ist".
Kommt uns das nicht bekannt vor? Eine totalitäre Struktur und ein Übermaß machtpolitischer Präsenz -die erleben wir ganz konkret wieder spätestens seit Februar 2022, als Russland die Ukraine überfiel und zuvor schon die Krim von der Ukraine annektiert hatte.

 

Als Kontrast dazu  ein Zitat des Germanisten Lew Kopelew, der im Zweiten Weltkrieg Politoffizier in der Sowjetarmee gewesen ist, im Bild unten rechts.

 

Bilder unten:

1 + 2: Titel und Rückseite des Buches: Hitler-Stalin-Pakt 1939. Das Ende Ostmitteleuropas? Hrsg. Erwin Oberländer, Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt am Main  1989. Der obige Text bezieht sich auf den bzw. entstammt dem Abschnitt "Der Hitler-Stalin-Pakt und Rumänien" von Armin Heinen S. 98-113.

3+4 : Titel und Auszug aus: Treibgut des Krieges. Zeugnisse von Flucht und Vertreibung der Deutschen, Volksbund Deutsche Kriegsgräber Fürsorge, Kassel 2008.


21. Juni

Heute habe ich verschiedene Texte über die Zipser in Rumänien zusammengeführt, ausgedruckt und gelesen. Aufschlussreich.

Ähnlich wie die Siebenbürger Sachsen und weitere sind die Zipser ursprünglich deutschstämmige Siedler:innen, die durch politisch-wirtschaftlich motivierte Bestrebungen für das Leben und Arbeiten an bestimmten Orten geworben wurden. Die Familie meiner Großmutter väterlicherseits waren Zipser aus Rumänien.

 

Und ein Geschenk habe ich auch noch bekommen!

Im Wikipedia-Eintrag zu den Zipsern (https://de.wikipedia.org/wiki/Zipser_in_Rum%C3%A4nien) gibt es nämlich einen großen Abschnitt über das Erzählen. Die mündliche Überlieferung, die Tradition, Geschichte in Geschichten zu transportieren. Was für ein wunderbares Gefühl! Meine Vorfahren hatten eine noch lebendige Erzähltradition! Mära und Kasska.


23. Juni

Treibgut des Krieges
Publikation des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge  e.V.

Titel- und Rückseite oben abgebildet, gegen Spende zu beziehen über: https://www.volksbund.de/


Das bestellte Buch ist da - eigentlich eine Freude, aber hier verhalten angesichts der Schwere des Themas.

Ein bisschen zögerlich beginne ich mit der Durchsicht des Buches. Kriterien meiner Durchsicht sind das Sammeln allgemeingültiger Informationen und das Heraussuchen biografischer Beschreibungen von Menschen, die in ähnlichen Gebieten gelebt haben, wie meine Großeltern zu der Zeit. Es ist eine sehr intensive Arbeit. Denn auch, wenn ich eigentlich nur die zu lesenden Abschnitte kennzeichnen will, bleiben meine Augen an den Worten hängen, verweilen in den Zeilen, ich werde hineingezogen in das Chaos, die Angst, die Ungläubigkeit, die Ohnmacht, das Schreckliche. Es wird persönlich, es bekommt Namen und durch die Bebilderung mit Originalfotografien auch Gesichter.

Ein Gefühlsgemenge aus Wut - über die Verursacher, die Täter, die Greuel - und zutiefst empfundenen Mitgefühl überkommt mich, mit all den Menschen, die diese unaussprechlichen Dinge erlebt haben und auch heute immer noch erleben müssen, besonders Frauen und Kinder.


Eine Lektüre, die drastisch eine Erziehung zum Frieden unterstützt. Oder?
Wenn all diese schlimmen Dinge und Erlebnisse ausgesprochen werden, aufgeschrieben werden, erinnert werden, ist das die einzige Chance, diese für die Zukunft zu verhindern. Bewusstsein des Grausamen zur Verhütung neuen Übels. Zumindest die Hoffnung darauf.

Als ich das Buch nach einer Stunde aus der Hand lege, fühle ich mich erschöpft.


27. Juni

Titelbild des Buches "Das Mädchen aus dem Wald" von Claus Stephani, Bildquelle: https://www.siebenbuerger.de/zeitung/artikel/kultur/8137-volkserzaehlungen-von-claus-stephani-in.html
Titelbild des Buches "Das Mädchen aus dem Wald" von Claus Stephani, Bildquelle: https://www.siebenbuerger.de/zeitung/artikel/kultur/8137-volkserzaehlungen-von-claus-stephani-in.html

 

Auf der Webseite www.siebenbuerger.de (der Seite des Verbands der Siebenbürger Sachsen in Deutschland, einem Informations- und Austausch-Portal zu Siebenbürgen und Siebenbürger Sachsen) lese ich die Rezension zu dem Buch "Das Mädchen im Wald" von Claus Stephani, das 2008 auf Englisch in den USA erschienen ist. Die Bukovina Society of America (Ellis, Kansas/USA) hat die Übersetzung in Auftrag gegeben.

Es beeindruckt und freut mich immer wieder, wo überall auf der Welt sich Menschen für ihre Herkunft und ihre Vorfahren interessieren. Aber natürlich - es geht um unsere Wurzeln. Unsere Herkunft, unser Halt, unsere Kultur, ein Stück immaterielles Zuhause. Es ist gut zu wissen, dass da ein Ort ist, in dem meine Wurzeln ruhen können.

 

Sehr bewegend fand ich ein Zitat in der Rezension, hier der entsprechende Auszug:


In einer ausführlichen Würdigung Claus Stephanis schreibt die verdienstvolle, in New York lebende Germanistin und Literaturwissenschaftlerin Prof. Dr. Sophie A. Welisch, die als Übersetzerin des Bandes zeichnet, dass

„zu jener Zeit, als diese Mythen und Sagen noch lebendig im Volk umhergereicht wurden, die Bukowina ein ‚Europe in miniature‘ war. Denn hier lebten damals zwölf verschiedene Ethnien friedlich beisammen, lange bevor es die gegenwärtigen Versuche der ‚concepts as multiethnicity and multiculturalism‘ gegeben hat. Diese einmalige ‚ethnic harmony‘ wurde jedoch empfindlich ge­stört und danach vernichtet durch den aufkommenden Nationalismus und den Totalitarismus vor und nach dem Zweiten Weltkrieg“.


Die komplette Rezension des Buches und Hintergrundinformationen finden sich hier:

 

https://www.siebenbuerger.de/zeitung/artikel/kultur/8137-volkserzaehlungen-von-claus-stephani-in.html

 

Kann es tatsächlich diese gelebte gesellschaftliche Utopie gegeben haben, in den Gebieten Rumäniens, die wenig erschlossen waren? Die daher auch (zumindest eine ganze Weile) verschont blieben von Meinungsmache, Hetze, Manipulation durch Fremdinteressen, Propaganda? Galten dort die Nähe und das aufeinander Angewiesensein einfach mehr? Der alltägliche Pragmatismus, das einander Kennen und Vertrauen?

Welche Wirkmacht hatten die Narrative, die Geschichten, die dort erzählt wurden? Die MITEINANDER GETEILT wurden? Welche Geschichten wurden dort erzählt?

(Zur Wirkmacht von Geschichten vgl. auch "Erzählende Affen. Mythen, Lügen, Utopien", von El Ouassil, Samira und Karig, Friedemann, Ullstein Verlag 2021.)

 

Genau das sind die Fragen, die mich an- und umtreiben: Welche Geschichten brauchen wir heute für ein gutes Jetzt, ein gutes Morgen? Was müssen wir aus der Betrachtung der Vergangenheit lernen, welche Muster erkennen und aufdecken? Im Großen wie im Kleinen, gesellschaftlich und individuell?


29. Juni

Heute fahren wir nach Osten. Mein Vater, mein Großvater, sein Hund und ich. Mit seinen fast 96 Jahren ist mein Opa noch rüstig und gut unterwegs, wenn auch körperliche Aktivität schwerfällt. Wir fahren mit dem Auto, mein Vater am Steuer, Opa und Hund hinten, ich auf dem Beifahrerplatz.

Ein bisschen seltsam und ein bisschen aufregend. Keine Erwartungen, aber vorsichtiges Interesse und Empathie. Achtsam bleiben. Wie viel kann ich fragen, darf ich fragen?

Die Straße ist uns gewogen, wir kommen gut durch. Je ländlicher und näher an seinem Geburtsort, umso lebendiger wird mein Großvater. Er zeigt in die Landschaft, benennt Orte, beschreibt alte Routinen, erzählt Episoden aus seiner Kindheit.

 

Unser erster Halt ist der Friedhof seines Heimatortes. Kahl und leer, wenig Grabstätten. Die jungen Leute haben kein Interesse mehr an Gräbern, die gepflegt werden müssen. Die lassen sich lieber verstreuen, erfahren wir von einem Mann, der die Eisbegonien auf dem Grab seiner Eltern wässert.

Opa zeigt mir einen schwarzen Grabstein, der ins Erdreich gesunken halb versteckt unter einem Wacholderstrauch liegt. Sagen tut er nichts.

Berta, steht da, gestorben im März 1945 im Alter von fast 50 Jahren. Darunter "Zum Gedächtnis meines lieben Sohnes und Bruders Emil", gestorben 1943 im Alter von 19 Jahren. Sie, meine Urgroßmutter, starb nicht am Krieg, sondern am Krebs, in der Charité in Berlin. Er, mein Großonkel, fiel vermutlich als Soldat in Russland. Bis heute konnte er nicht gefunden und bestattet werden.

1945 war auch das Jahr, in dem der Vater meines Großvaters von den Sowjets, der Besatzungsmacht, in einem Lager interniert wurde, in dem er 1947 starb.

Als mein Großvater 1945 als 18jähriger aus der Kriegsgefangenschaft heimkehrte, war seine Familie nicht mehr da. In seinem Zuhause wohnten fremde Leute.

 

Zu den auf dem kleinen Friedhof verbliebenen Gräbern und Namen höre ich Details und Erlebnisse: Raffgierige, unehrliche Nachbarn. Jugendschwarm. Zu früh verstorben. Mitschüler.

Wir fahren weiter, halten vor Häusern, in denen meine Vorfahren gelebt haben, und an zwei weiteren Friedhöfen. An der letzten Station höre ich, dass der Großvater meines Großvaters dort Bürgermeister gewesen ist. Es ergibt sich ein Gespräch mit einem historisch interessierten Anwohner, der uns Details dazu liefert und uns eine vergriffene Broschüre zur Ortsgeschichte zeigt.

Mein Ururgroßvater war 24 Jahre lang Bürgermeister, wohl auch beliebt und geschätzt, und hatte nach seinem Ableben ein Denkmal bekommen. Das konnten wir leider nicht mehr ausfindig machen, doch war dieser Austausch insgesamt ein positiver Punkt für meinen Großvater, neben dem anderen. Er äußerte es nicht, doch seinen Schmerz und seine Wehmut konnte ich spüren. Mein Vater hielt sich die ganze Zeit über im Hintergrund, gab den Fahrer und kümmerte sich um den Hund. Er selbst hat keine so intensive Bindung an den Ort, er war sechs Jahre alt, als es 1957 zur Flucht aus der ehemaligen DDR kam.

Als wir uns nach der Rückfahrt verabschieden, danke ich beiden, dass sie sich darauf eingelassen haben. Mein Großvater wirkt entspannt, zufrieden: Es war doch eine schöne Fahrt, die wir gemacht haben.

 

Die vielen Informationen und Eindrücke beschäftigen mich. Wenn ich versuche, mich in die Situation meines Großvaters hineinzuversetzen, ist es neben Mitgefühl auch ein großer Respekt, den ich empfinde. Was er im Krieg und im Osten erlebt hat, ist das Eine. Danach gab es ja auch noch die Odyssee in Westdeutschland, mit verschiedenen Unterkünften für Geflüchtete, bis ein neues Leben für die Familie aufgebaut werden konnte.

Ich bin sehr froh, dass dieser gemeinsame Ausflug möglich gewesen ist.

Nun habe ich das Gefühl, dass das Familiengedächtnis weiterbesteht. Das Erinnern an die Menschen, die vor uns da waren, das Andenken bewahren. Auch an die schlimmen und schwierigen Zeiten. Auch an die Dinge, die wir vielleicht lieber nicht gewusst hätten oder lieber nicht erinnern würden. So ist vieles offengelegt, und das ist gut. So kann Verbindung entstehen und bleiben. So kann das Fremdsein in der Familie, Oberflächlichkeit und Nichtverstehen etwas anderem weichen. So finde ich Wurzeln in der Welt.


Nachgang, Nachklang

Meine Materialsammlung ist umfangreich und doch nicht vollständig. Das Material umfasst Gedanken, Quellen, Beschreibungen historischer Begebenheiten, Sammlungen persönlicher Erlebnisse, Erkenntnisse aus Gesprächen mit Genealogen, mit Verwandten, Screenshots aus Internetforen, Archivalien unterschiedlichster Herkunft, dokumentierte Umsiedlung, Landschaftsbeschreibungen, dokumentierte Gräuel, Unausgesprochenes und noch mehr.
Manches habe ich digital gesammelt, in Form von Texten oder Bildern, Videos und Audios. Manches habe ich handschriftlich gesammelt, manches sind alte Fotografien und Dokumente, die ich als Originale im Bestand meiner Familie gefunden habe. Wie bringe ich da Ordnung hinein? Lässt sich dies überhaupt ordnen? Kann man ein Wurzelwerk ordnen?


Ein Vergleichsversuch:

Es gibt die Natur so, wie sie wächst und gedeiht: die kleinen Gewächse wie Moose, Flechten, die etwas höheren wie Gräser, Kräuter, Stauden und dann die Vielfalt der Büsche und Bäume. Alles sucht sich seinen Platz, erkämpft sich seinen Platz, manche gewinnt, mancher verliert. Dann kommt der Mensch und gärtnert, weist den Dingen ihren Platz zu, schneidet sie in Form, bändigt und gestaltet. Vielleicht ist es mit dem Erzählprogramm so ähnlich. Ich werde das Material bändigen und formen und daraus etwas Neues entstehen lassen.
Nein. Nach einigem Nachdenken passt dieses Bild doch nicht für mich. Es geht nicht darum, etwas in eine Form zu bringen, sondern die Form so wirken zu lassen, wie sie ist. Es geht eher darum, eine Tour, eine Wanderung, eine Exkursion zu machen durch die Landschaft. Und ich als ortskundige Scout mache die Mitwandernden darauf aufmerksam, was es links und rechts des Weges zu sehen gibt. Weise auf Dinge hin, die einem nicht unbedingt ins Auge fallen, erkläre Hintergründe, gebe Zusatzinformationen, stelle Zusammenhänge her. Ja, so.

Offenes
Die Materialsammlung ist nach vielen Seiten hin offen. Wird es bleiben.

  • Wo sind die Verstorbenen zu finden, deren Gräber nicht dokumentiert sind. Was hat der Urgroßonkel in der Zeit bei der SS erlebt, getan, gedacht. Wusste die Familie davon. Wo sind seine Nachkommen, seine Kinder.
  • Welche Dinge haben meine Großeltern in ihrem Herzen verschlossen, damit sie nicht mehr ans Tageslicht kommen? Was davon wirkt in mir, durch mich nach? Nur einen kann ich das noch fragen, meinen noch lebenden 95jährigen Großvater. Aber gleichzeitig zögere ich, möchte ihm seinen Schutz lassen und nicht der Konfrontation mit meinen Fragen aussetzen.
  • Bei den großen Umsiedlungsaktionen in den 1940er Jahren, sind sich meine väterlichen und mütterlichen Vorfahren, die Wolhynier:innen, die Bukowiner:innen, womöglich im Lager begegnet?

Eine Frage ist ein guter Titel für ein Programm aus dieser Materialsammlung, für das Erzählkunstprogramm Fluchtwurzeln: Wo ist Lilli? Lilli als Stellvertreterin dafür, was wir verlieren, aufgeben müssen, betrauern, loslassen, erringen, finden, neu beginnen.

Kontakt:     mail (et) maerena.de

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